Wir reichern uns an


„Wir reichern uns an“ echot mir seit Tagen durch den Kopf. Tschernobyl-Generation. Damals noch nicht so viel von allem verstanden, es gab einen Sommer lang keinen Salat und wir hatten auf einmal überall Flaschen und Schraubgläser voller Trockenmilch von „davor“. Die Grundschullehrer fanden nichts dabei uns in der Pause in den Regen rauszuschicken. Wir reichern uns an.

Ich persönlich habe das jetzt von hier kopiert, gibt aber noch mehr Fundstellen.

„Diese Anzeige erschien am 23.5.1986 in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Sie entstand in einem Freundeskreis von sieben Männern und Frauen. Als verantwortlich im Sinne des Presserechts zeichnete Inge Aicher-Scholl, die Schwester von Hans und Sophie Scholl:

Was tun? H-Milch kaufen oder Büchsenmilch? Wir wissen es nicht.
Verfallsdaten beachten oder Halbwertszeiten? Wir wissen es nicht.
Regenschirm oder Abduschen? Wir wissen es nicht.
Sind Kinder 23-mal oder nur 17-mal so gefährdet wie Erwachsene?
Wir wissen es nicht.

Es geht um mehr als um Tiefkühlkost und um die Frage nach dem unbedenklichen Verzehr von Blattspinat in den richtigen Bundesländern.

Unsere Politiker haben sich tot gestellt. Kein Ton von den Herren, die so gerne reden.

Als Lastwagenfahrer einst gegen schleppende Abfertigung an der Grenze protestierten, fuhr Herr Strauß ins Krisengebiet. Im geländegängigen Fahrzeug.

Wenn jetzt Frauen ihre Kinder nicht mehr auf den Spielplatz lassen können, wenn die Landwirte ihr Blattgemüse umpflügen müssen, wenn Menschen der Strahlengefahr direkt ausgeliefert sind, entfaltet sich administrative Funkstille.

Der Staat ist untergetaucht. Warum?

Ruhe bewahren,
nur keine Aufregung,
Gras darüber wachsen lassen:
Die Atompolitik darf nicht gefährdet werden.

Nur einer meldet sich zu Wort: Herr Zimmermann. Er beschimpft die Russen, sie würden eine unmenschliche Informationspolitik betreiben, eine verantwortungslose, weil sie nichts anderes im Sinn hätten als:

Ruhe bewahren,
nur keine Aufregung,
Gras darüber wachsen lassen:
Die Atompolitik darf nicht gefährdet werden.
Der Kanzler aus dem Fernen Osten gab Anweisungen.
Die Behörden hielten Strahlenwerte geheim.

Heute sind 350 Kernreaktoren in rund 30 Ländern in Betrieb. Zwei haben schrecklich versagt.
Einer in Harrisburg, einer in Tschernobyl.

Nun werden noch mehr Menschen an Krebs sterben. Das Erbgut vieler Menschen ist seitdem krankhaft verändert, ohne dass sie es wissen. Es wird noch mehr Sozialfälle und Krüppel geben.
Die Schadstoffe werden in der Lebensmittelkette bleiben.
Wir reichern uns an.

Versagen gehört zu unseren Welt. Es gibt keine absolute Sicherheit. Jede Technik hat Schwachstellen. Versagen ist menschlich. Mit Versagen nicht zu rechnen, ist verantwortungslos und unmenschlich.

Die Atomwirtschaft setzt auf technische Wunderwerke, die nicht versagen.

Aber sie haben versagt.

Mag sein, die deutschen Atomkraftwerke sind doppelt so sicher wie die russischen. Dann passiert es in acht Jahren statt in vier.

Und Brokdorf liegt nur 60 km von Hamburg, Wackersdorf nur 130 km von München, Biblis nur 50 km von Frankfurt.

Wer evakuiert die Hamburger wohin? Werden die Münchner nach Capri evakuiert? Die Frankfurter auf die kanarischen Inseln?

Jeder wird allein gelassen sein.
Wie schon dieses Mal. Die Politiker werden wieder unfähig sein, etwas zu tun.
Sie werden abwiegeln und beschwichtigen.

Nur keine Panik, sagen sie.
Unsere Sorge sei verständlich, sagen sie, aber völlig überflüssig.
Vor allem soll alles so weitergehen, sagen sie. Nur jetzt noch sicherer.
Atomstrom schafft Arbeitsplätze, sagen sie.
Beschwichtigung von Ignoranten.
SIE SEHEN NICHTS,
SIE HÖREN NICHTS,
SIE LERNEN NICHTS.
Sie haben nur gelernt, wie man Wahlen gewinnt.

Was haben wir gelernt?
Es reicht nicht, gegen das Informationschaos und den Beschwichtigungsnebel der Regierung zu protestieren.
Es reicht nicht, mehr Schutz und Sicherheit zu fordern.
Es reicht nicht, weil uns so eindrucksvoll wie noch nie bewiesen wurde, in welchem Ausmaß die Politiker nicht gewachsen sind.
(Dabei war Tschernobyl nur ein Unfall.
Stellen wir uns vor, es explodieren Sprengköpfe.)

Auswandern? Emigrieren?
Aber wohin?

Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewusst.
Wir können nicht fliehen und emigrieren.
Die Welt wird immer mehr zu unserem eigenen Gefängnis.
Zum Gefängnis des atomaren Fortschritts.

WENN WIR HEUTE NICHTS DAGEGEN UNTERNEHMEN,
WERDEN SIE SICH MORGEN BEDANKEN FÜR UNSER STILLHALTEN UND UNSERE „VERNUNFT“.
JEDER MUSS ÜBERLEGEN, WAS ER TUN KANN.
JEDER AN SEINER STELLE.
DIESES MAL VERGESSEN WIR`S NICHT.

  1. #1 by Anonym heißt Ohnename on 2011/10/08 - 2:05 pm

    danke für diesen Text. Leider gibt es noch immer zu viele, die an die „Beherrschbarkeit“ der Atomtechnik glauben… Und diese werden erst vielleicht was ändern wollen, wenn ihren Kindern die Haare und Zähne ausfallen.

  2. #2 by asynchron on 2011/03/27 - 1:50 am

    Ich weiß auch nicht, warum sich mir der Text (oder Passagen davon) so massiv eingebrannt hat.1986 war ich wohl eher noch zu jung dafür, und als ich später Pausewang-Bücher las, schob ich das Grauen weg, um damit umgehen zu können – wie viele, wenn nicht alle. Dennoch liest sich mir das, was ich da postete, heute, als wäre es frisch, als hätte ich es erst vor wenigen Tagen zum ersten Mal gelesen.
    Dabei, was will ich eigentlich damit? Hab ich mir doch No-Future ganz groß auf meien persönliche Fahne geschrieben. Mit Öko-Batch rumlaufen und bei Latsch-Demos mitsingen, das ist prinzipiell mal so gar nicht meins.
    Um meine Nachkommen geht ’s dabei wohl nicht mal mehr.
    Worum sonst?
    Und wenn es nur das Recht ist, über mein eigenes Ableben und seinen Modus im Zweifelsfall selbst zu entscheiden.
    Aber das ist mir Grund genug.

  3. #3 by Hanno on 2011/03/27 - 1:40 am

    Solange es noch immer Leute gibt, die Brüderles Augenzwinkern teilen und der bekanzelten Atomphysikerin glauben, die meint, man könne das ja nicht gewusst haben – außerdem würden wir hier ja keine Tsunamis zu befürchten haben, so lange kann man ausreisen, wohin man will, die Bomben in Form von Kraftwerken sind schon da. Hase und Igel. Wobei man Brüderle (komm tanz mit mir) noch dankbar sein muss, bei der sonst so hermetisch eingeigelten Atomlobby. Auch der BDI muss lernen, wie dumm ein Leck sein kann…

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