Julia hat geantwortet


Just in dem Moment als ich schon nicht mehr damit rechnete, kam ein Kommentar unter Analog.

Kurz und knapp:

du kannst dir noch sachen kaufen. das kulturelle existenzminimum ist das nicht. hartz-iv muss auf 420 euro erhöht werden, und zwar, weil es gerecht ist.
aber die behauptung, man könne davon nicht „überleben“, das ist einfach unsinn, und dabei bleibe ich.
julia seeliger

Ich schreib jetzt eigentlich nur deswegen einen Blogeintrag als Antwort anstelle eine Kommentars, weil mir das Kommentareingabefeld allzu klein ist, um geordnete Gedanken drin produzieren zu können – und weil ich schon wittere, dass das ein langer und ausgiebiger Reply werden wird.

Also zu Sache.

„du kannst dir noch sachen kaufen“
Nun, das hat jetzt niemand wirklich geleugnet. Die Frage ist nicht, ob man sich noch was kaufen kann, sondern was und wieviel.
Da geht ’s jetzt mit der länge schon los *hust* ich muss das jetzt einfach mit der gefundenen Aufschlüsselung machen (es gibt da übrigens auch noch welche aus „neutraleren“ Quellen, logisch. Ich mach mir jetzt einfach nicht die Mühe, mit Verlaub).

Also, für was ist da der Regelsatz (zum Stand des Dokuments €351) anteilig gedacht:

  • Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren: 129,52
  • Bekleidung und Schuhe: 34,84 („darunter u.a.“ 20,94 für Kleidung und 7,47 für Schuhe)
  • Wohnen, Energie, Instandhaltung: 26,24
  • Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände: 25,08 („darunter u.a.“ 1,40 für „Kühlschränke, Gefrierschränke und -truhen“ und 1,56 für „Waschmaschinen, Wäschetrockner, Geschirrspüler“)
  • Gesundheitspflege: 12,89
  • Verkehr: 15,40 („darunter u.a.“ 0,68 für den „Kauf von Fahrrädern“ und 11,23 für „Fahrkarten für Bus und Bahn (ohne Reisen)“)
  • Nachrichtenübermittlung: 30,78 („darunter u.a.“ 23,62 für „Telefon-, Faxgebühren“ und 3,16 für „Internet, Onlinedienste“)
  • Freizeit, Unterhaltung, Kultur: 39,93 („darunter u.a.“ 1,29 für „Spielwaren und Hobbys“, 6,38 für „Besuch von Sport- und Kulturveranstaltungen bzw. -einrichtungen“, 5,57 für „Bücher und Broschüren“, 2,77 für „Schreibwaren, Zeichenmaterial“)
  • Bildung: 0,00
  • Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen: 8,31
  • Andere Waren und Dienstleistungen: 27,24 („darunter u.a.“ 3,09 für „Gebrauchsgüter für die Körperpflege“ und 6,17 für „Haarpflege-, Rasiermittel, Toilettenpapier u.ä.“)

So. Und jetzt lassen wir uns das mal schön langsam auf der Zunge zergehen. Es ist alles für eine Einzelperson gedacht. Ich fang mal mit den Punkten an, wo es eigentlich offensichtlich sein muss, dass was falsch läuft.

Ein monatliches Verkehrsbudget von € 15,40. Eine Einzelfahrt mit einem Verkehrsverbund innerhalb eines Innenstadtbereichs kostet um die 2€. Von dem Geld kann man dann also 3x hin und zurück fahren und einmal nicht ganz bis hin. Und das auch nur, wenn man sich kein Fahrrad für 68 Cent kauft. Das ist überspitzt, ich weiß. Die Angabe aber auch. Ein Monatsticket kostet ab 30 Euro (und das auch nur eines, das erst ab 9 Uhr gilt, wer früher bei der Arge antanzen muss, muss mehr zahlen).

Bildung: € 0,00. Ohne Worte. Wahrscheinlich war ’s so gedacht, dass Schüler und Studenten ja eh keinen Anspruch auf ALG2 haben, was aber nicht ganz korrekt ist, es gibt Sonderfälle. Bei denen, die nur einen Maximalanspruch auf € 192 Bafög haben, gibt es ALG2, weil das sogar noch jeder eingesehen hat, dass Bafög allein zu wenig ist. Wird allerdings aufs ALG2 angerechnet, kommt also auch nur der Regelsatz dabei raus. Tja und die dürfen dann aber auch nichts für die Schule brauchen. Mal ganz davon abgesehen, dass € 0,00 auch Minderjährigen zustehen, die mitgehangen-mitgefangen von ALG2 leben müssen und durchaus auch noch zur Schule gehen können/müssen/dürfen/wollen.

Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen: € 8,31. In Berlin sind die Döner wohl billiger, ich kenn keinen halbwegs vertrauenswürdigen unter 3 Euro, das billigste Auswärtsessen sind wohl die 1€-Angebote der Fleischbratereien. Oder man macht mal richtig einen drauf und geht zu einem 5€-Mittagstisch, da könnt sogar noch ein Saft statt einem Wasser drin sein. Luxus!

Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände: € 25,08. OK, man kann vermutlich tatsächlich davon ausgehen, dass die Geräte zunächst vorhanden sind und eben grade nicht beschafft werden müssen. Blöd wird ’s nur, wenn eins kaputtgeht. Im Gegensatz zur alten Sozialhilfe wird nämlich eine Reparatur bzw. Wiederbeschaffung nicht mehr getragen.

Bekleidung und Schuhe: € 34,84. Ist zunächst mal so wie bei der Wohnungsausstattung, zunächst sind wohl erstmal Klamotten da. Nicht ohne Sarkasmus behaupte ich jetzt aber einfach mal, dass z.B. der Schuhverschleiß bei einem ALG2ler wohl eher höher sein dürfte als beim Durchschnitt – schließlich muss er das Meiste laufen. Ein Paar Schuhe nachkaufen oder besohlen lassen, das sollte davon wohl auch tatsächlich gehen. Aber was, wenn die Hose auch kaputt ist und man im Frühling, als es noch rosiger aussah, die warme Winterjacke veschenkt hat, an jemand, der sie nötiger brauchte? Zeigt dann Politik sogar modischen Effekt durch die Rückkehr des Zwiebellooks?

Freizeit, Unterhaltung, Kultur: € 39,93. Eine Tageszeitung im Abo kostet um die 30 Euro (hab grad nur bei der FR nachgeschaut, aber die dürften sich nicht so viel nehmen). Von GEZ kann man sich befreien lassen – wenn sie es denn annehmen, außerdem muss das dann wieder regelmäßig wiederholt werden.
Wochenzeitschriften, Magazine oder so kann man dann schon nicht mehr regelmäßig lesen. Oder halt in Bibliotheken, man hat ja auch den ganzen Tag Zeit … Veranstaltungen, Hobbys, Bücher? Entweder – oder!

Wohnen, Energie, Instandhaltung: € 26,24. Also für das, was nicht von den Kosten der Unterkunft gedeckt wird. Ungeachtet dessen, dass mindestens geplant war, die Gerichtskostenbeihilfe für ALG2ler zu streichen wird ja immer noch munter prozessiert und so kann ich dazu grad nicht viel schreiben. Es wurde teilweise schon entschieden, dass sowohl Kaltmiete als auch Strom, Heizung und Warmwasser von der Arge übernommen werden müssen; mein Wissensstand war noch, dass Lichtstrom und Warmwasser da nicht mit reinzählt und falls das Warmwasser gemischt mit dem Heizwasser geliefert wird, eine Pauschale abgezogen wird, und die war von Ort zu Ort verschieden. Unter der Präambel, Lichtstrom und Warmwasser davon zahlen zu müssen, wird ’s kalt und dunkel.

Gesundheitspflege € 12,89. Von Praxisgebühr und Zuzahlung zu Rezepten kann man sich bis zu einem Anteil von 2% des Jahreseinkommens befreien lassen. Was viele nicht wissen. Weiß man es nicht oder hofft man, das mit dem ALG2 werde nicht solang dauern, ist mit dem Betrag ein Arztbesuch (Praxisgebühr) gedeckt, die Verschreibung schon nicht mehr.

Nachrichtenübermittlung für € 30,78 im Monat. Der billigste Telekomtelefonanschluss kostet € 17,95 („Call Start“), und damit hat man dann noch kein Gespräch geführt. Naja es gibt ja jetzt so Superflatangebote für € 20 all inclusive, haben die sicher gemacht, damit HartzIVler auch noch kommunizieren können. Allzuoft darf man trotzdem nicht versuchen, seinem Fallmanager über die 0180-Hotline was ausrichten zu lassen, sonst ist das Budget gleich weg.

Essen und Rauchen: € 192,52. Nehmen wir mal (zugunsten des Regelsatzes) an, es handelt sich um einen genügsamen, leitungswassertrinkenden Nichtraucher. Auf einen Standardmonat mit 30 Tagen umgerechnet sind das dann rd. € 6,42 für Essen pro Tag. Nur vom Discounter könnte das sogar hinkommen, sogar mit etwas Obst gelegentlich. Die Rechnung, die Sarrazin aufgemacht hat, taugt allerdings wiederum nicht, man kommt halt nicht an ein Würstchen für 40 Cent, dann hat man wenigstens 4 davon, und muss die auch irgendwann essen, vor sie schlecht werden, so einfach geht ’s also nicht mit der billigen und trotzdem abwechslungsreichen Ernährung. Zudem laufen persönlich geschätzte 98% der Leute ohne Kaffee/Tee überhaupt nicht rund und nur von Leitungswasser zu leben, kann beim „soziokulturellen Existenzminimum“ wohl auch nicht gemeint gewesen sein. Auf den Punkt würd ich gern lauter motzen, als ich grad belegen kann, der Selbstversuch geht mir noch ab und subjektiv wahrgenommen gibt ’s beim Discounter inzwischen mehr und mehr auch halbwegs brauchbares Futter – an der Stelle geb ich für heute morgen mal zu, es könnte reichen. Allerdings hat Julia auch selbst einen dokumentierten Selbstversuch verbloggt, vom Regelsatz (allerdings abzüglich des mitveranschlagten Tabaks, also nur € 4,25/Tag) zu leben.

Andere Waren und Dienstleistungen: € 27,24. Klingt so undefiniert auch nicht schlecht. Allerdings fällt da ja wieder wirklich alles rein, Spülmittel, Seife, Rasierer, Shampoo, Conditioner, Deo, Bodylotion, Aftershave, Duschgel, Putzschwamm, Zahnpasta, Zahnbürste, Klopapier, Taschentücher, Küchenrolle, Makeup, Cremes, Nahrungsergänzungsmittel (den kann ich mir grad nicht verkneifen *hust*) … und auch noch alles andere, was nicht aufgeführt wurde: Versicherungen, Tierfutter, Sprit – denn ein Auto darf man tatsächlich noch haben, wenn ’s nicht viel wert ist -, Steuer fürs Auto wenn man denn noch eins hat, und und und. Das Auto mal beiseite, aber dass z.B. keine Versicherung mehr „inbegriffen“ ist, ist auch wieder so ein Knackpunkt. Grad, wenn jemand nichts mehr hat, sollte man ihm doch noch die nötigste Absicherung zugestehen, sich nicht auf ewig zu verschulden, wenn was passiert, will sagen, eine Privathaftpflicht wäre doch nicht zuviel verlangt – meine kostet unter 5€/Monat. Könnte man sagen, dann steckt die doch in dem Satz mit den Dienstleistungen sicher schon drin, aber da kann ich nur fragen: Wo denn?

Das war mir jetzt ein Bedürfnis, das mal so auseinanderzunehmen.
Wenn man unbedingt will, kann man sicher sagen, die Stellen, wo es nicht reicht, sind von denen „quersubventioniert“, wo ich nicht die ganz große hieb- und stichfeste Kritik bringen konnte, und überhaupt, jeder hat doch noch irgendwelche Rücklagen. Nee, hat der ALG2ler eben nicht. Es gibt einen „Grundfreibetrag für Erwachsene in Höhe von Lebensalter x 150 € (min 3100 € und max 9750 € ) für jede erwerbsfähige Person in der Bedarfsgemeinschaft und deren Partner(§ 12 Abs. 2 Nr. 1 SGB II)“. Bis man ALG2 kriegt, muss man sein „sauer verdientes Geld“ erstmal bis auf diesen Kaffeesatz von Restvermögen ausgeben. Deckt man davon das, was man quasi in der Umstellung über den Satz ausgegeben hat, oder weil man sich eben doch mal nen neuen Kühlschrank kaufen muss, ist auch das schnell weg.

„hartz-iv muss auf 420 euro erhöht werden, und zwar, weil es gerecht ist.“
hmm, 70€ mehr. wo werden die hinveranschlagt? aufs essen, weil der warenkorb von 2003 stammt und von der inflation überholt wurde?
und überhaupt, gerecht. gerecht für wen? gerecht in bezug auf was?
gerecht für die indoktrinierten, die solidargemeinschaft in einem atemzug mit gutmenschen und sozialschmarotzer nennen? oder gerecht für die, die bei aller verinnerlichen protestantischen leistungsethik es trotzdem nicht schaffen, wieder in lohn und brot zu kommen und dafür dann wenigstens eine monatskarte für den öpnv kaufen können, um vor all die schönen häuser zu kommen, zu denen sie den eintritt nicht zahlen können?
oder für wen?

„aber die behauptung, man könne davon nicht „überleben“, das ist einfach unsinn, und dabei bleibe ich.“

Julia, du hast mir den Selbstversuch voraus. Allerdings wurde mir aus deinem Blog nicht klar, wie lang der gedauert hat. Und wie du selbst so schön schriebst, „ich bin es gewöhnt, von wenig Geld zu leben – die meisten Studierenden haben weniger als Hartz-IV“. Das ist eine Seite der Medaille. Die andere ist zum Einen, ich benutze deine Worte, „wie achtlos mit Menschen in Not umgegangen wird“ und dass zum Anderen eben nicht jeder, der auf ALG2 zurückfällt, gewöhnt ist, mit ‚wenig‘ Geld auszukommen.

Das entfernt sich ein wenig vom reinen Überleben, aber darf meines Erachtens auch nicht unter den Tisch fallen: Zu den wohl meistzitierten Abschreckbeispielen gegen ALG2 wird gern der Ingenieur herangezogen, Mitte-Ende 50, mit dem Bewusstsein einer gesicherten Existenz verliert er den Job, findet altersbedingt keinen neuen mehr und rutscht ins ALG2. Spätestens angesichts der aktuellen Wirtschaftslage sollte einem klar sein, dass das keine rektal abgesonderte Korinthe mehr ist, sondern reale Bedrohung für letztlich jeden, der sich noch in einem sicheren Job glaubt. Der gute Ingengieur muss nun also alle Ersparnisse aufbrauchen, wenn er sich mal ein nettes Häuschen für seine Familie gebaut hat womöglich auch noch das verkaufen (Obergrenze für selbstgenutztes Wohneigentum ~120m²), im Akkord Bewerbungen schreiben und zu Trainingsmaßnahmen einrücken, damit er für die Zeit aus den Statistiken verschwindet. Und sich dabei komplett von allem bisher geführten Leben verabschieden. Hat er ja nicht mehr das Geld für.

Ich kenn auch Gegenbeispiele, die sich hinstellen und sagen, also seit sie ALG2 kriegen, soviel Geld hätten sie noch nie gehabt und das dann auch gleich völlig unreflektiert für alle postulieren, dass das doch dicke genug sei – nur es ist nicht Jedermanns Sache, das Bettchen für das Kind unterm Herzen vom Sperrmüll zu holen. Mir persönlich würd ’s grausen, und ergo kann ich mich der Aussage eben auch grade nicht anschließen, wie toll und wie viel Geld das doch ist.

Um aufs reine Überleben zurückzukommen, Clochards (und ich benutze ganz absichtlich einen romantisierenden Begriff) leben wahlweise von weniger oder richtig gut von ALG2, und nach dem Krieg haben die Leute noch ganz anders überlebt, aber war die Grundanforderung an ALG2 wirklich nur die reine Sicherung der ÜBERlebens? Oder sollte da ein Minimum an Einbindung in die Kultur, das gesellschaftliche LEBEN gewahrt bleiben, ein Minimum, dass man nicht gleich als „Hartzie“ erkannt wird, oder ganz pathetisch, ein Minimum an Menschenwürde?

Und das alles hier (bis hier schon >2k Wörter) bezieht sich noch nur auf die Höhe des maximal zugestandenen Geldes und noch nicht einmal auf alle anderen unerfreulichen Erscheinungen, die mit HartzIV in Zusammenhang stehen.

Davon hast selbst du, Julia, ansatzweise geschrieben und es auch kritisiert, aber dabei hast du auch nicht deinen persönlichen Elfenbeinturm verlassen. Nur ein Beispiel: Der Antrag. Wer Bafög-Anträge kennt, wahlweise auch Anträge für Wohnberechtigungsscheine,seine Steuer noch von Hand erklärt oder auch nur ein Faible für Formulare hat, der mag mit dem Antrag tatsächlich ganz gut zurechtkommen. Die Frage aber, die man sich doch erst recht stellen muss, wenn man sich in der Politik engagiert, ist doch die: Wird das allen gerecht? Und da kommt auch schon wieder ein klares Nein. Es gibt auch Leute, die verstehen auf Anhieb eine Heizkostenabrechnung, die Mehrheit aber tut es nicht.

So, auch wenn ich mich noch länger über alles Mögliche an und um HartzIV verbreiten könnte, es ist schon wieder frühmorgens. Der Rest folgt bestimmt irgendwann …

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