Ganz aktuell wurde mal wieder sehr anschaulich demonstriert, welchen Wert eine Verfassung und ihr doch eigentlich beschützendes Organ á la Verfassungsgericht oder hier jetzt Staatsgerichtshof hat.
Der hessische Staatsgerichtshof hat heute mit 6:5 Stimmen entschieden, dass das von Koch und seinen Gefolgsleuten erlassene Studienbeitragsgesetzt zur Erhebung von allgemeinen Studiengebühren der hessischen Landesverfassung entspricht.
Diese besagt wohlgemerkt:
Artikel 59
1) In allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich. Unentgeltlich sind auch die Lernmittel mit Ausnahme der an den Hochschulen gebrauchten. Das Gesetz muß vorsehen, daß für begabte Kinder sozial Schwächergestellter Erziehungsbeihilfen zu leisten sind. Es kann anordnen, daß ein angemessenes Schulgeld zu zahlen ist, wenn die wirtschaftliche Lage des Schülers, seiner Eltern oder der sonst Unterhaltspflichtigen es gestattet.
(2) Der Zugang zu den Mittel-, höheren und Hochschulen ist nur von der Eignung des Schülers abhängig zu machen.
In den Augen der Richter ist die wirtschaftliche Lage aller durch die Möglichkeit der Aufnahme von "zinsgünstigen" Krediten derart gestaltet, dass die Gebühren die Regel sein können und auf die Einzelfallprüfung verzichtet wird.
Ist schon eine eigenwillige Auffassung: Wenn jemand kein Geld hat, aber die Möglichkeit, einen Kredit aufzunehmen, ist seine wirtschaftliche Lage also gut. Die Idee klaue ich jetzt aus den vielen Kommentaren, die die Meldung über das Urteil bei hr-online.de begleiten – wann kommt die Abschaffung von Arbeitslosengeld, Arbeitslosengeld 2, Krankenversicherung usw. usf. – es kann sich schließlich jeder einen Kredit aufnehmen, den er dann zurückzahlen kann, wenn er wieder Arbeit hat, gesund ist oder dergleichen.
Für ein allgemeines Schulgeld, sagen wir nach der 4. Grundschulklasse, wird es ja dann auch dringend Zeit. Die Grundfähigkeiten für Hilfstätigkeiten sollten dann erworben sein (grundlegende Lese-, Schreib- und einfache Rechenfähigkeiten), wieso kostenlos mehr Ausbildung bekommen? Da könnte ja jeder kommen!
Das wirklich enttäuschende ist nur, dass aufgrund einer denkbar knappen Entscheidung eines politisch besetzten Gremiums (das kann man nicht wegdiskutieren) dieser Ausweg aus der Misere jetzt versperrt ist; wegen der Kindergartenspielchen im hessichen Landtag noch nicht einmal Neuwahlen ausgeschlossen sind und eine potentielle neue schwarze oder schwarz-gelbe Regierung nichts besseres zu tun hätte, als die Gebühren wieder einzuführen. Ob es die derzeitige parlamentarische Mehrheit überhaupt noch schafft, das Gesetz zu kippen, bleibt zudem fraglich.
Woher soll man eigentlich noch nur das allergeringste Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit aufbringen, wenn einem auf allen Ebenen so drastisch vorgeführt wird, dass die ehemals erlassenen Grundsätze nur noch als störend und abschaffbar angesehen werden …
Update:
Die Richterminderheit am Staatsgerichtshof ließ es sich nicht nehmen, dem Urteil eine zehn Seiten lange Erklärung über ihre abweichende Rechtsauffassung anzuhängen. Diese liest sich durchaus noch erbaulich (als pdf abrufbar), und enthält eindeutige Passagen wie z.B. diese hier (S. 102 des Urteils):
Eine solche Auslegung widerspricht dem klaren Wortlaut, aber auch dem Sinn und Zweck des Art. 59 Abs. 1 HV und lässt sich ebenso wenig aus der Entstehungsgeschichte der Norm rechtfertigen. Sie überschreitet damit die Grenzen einer zulässigen Normauslegung.
(hervorhebung durch mich)